Von altem Glanz und blaugelber Melancholie Braunschweiger Zeitung, Donnerstag, 24.8.00
Dickes Ding - multimedial REGJO IV/00
Braunschweig der Kopf, Wolfenbüttel das Herz Braunschweiger Zeitung, Samstag, 4.11.00
Braunschweigische Landesgeschichte: Von der Steinzeit bis zur Grenzöffnung, Magazin der IHK-Braunschweig, 12/2000
Die Braunschweigische Landesgeschichte: Jahrtausendrückblick einer Region, Jahrbuch für den Landkreis Holzminden, Band 19 2001

Geschichtsverein und Stiftung präsentieren eine neue Landesgeschichte
Von altem Glanz und blaugelber Melancholie
Von Martin Jasper

   Es hatte durchaus Symbolcharakter, dass der Präsident von Eintracht Braunschweig zur Präsentation des neuen Mammutbandes über Braunschweigische Landesgeschichte erschien. Schließlich spielt der Verein in den Farben jenes Landes, das es seit 1946 nicht mehr gibt, und wiewohl der alte Glanz längst verblasst ist, ziehen die blaugelben Kicker immer noch die "Landeskinder" in Scharen an, die Identifikation ist ungebrochen.
   So wusste Gerhard Glogowski, wovon er sprach, als er meinte, die Menschen zwischen Harz und Heide fühlten sich dem alten Land immer noch zugehörig. "Und mit diesem Buch werden sie nun auch wissen, woher das kommt, was sie fühlen."

Von Fürsten und Bauern

   Glogowski war natürlich zur Pressekonferenz im ehemaligen Braunschweigischen Landtag (heute Amtsgericht) nicht als Fußball-Boss gekommen, sondern als Vorstandsvorsitzender der Stiftung Nord/LB-Öffentliche, die das Projekt mit rund 200.000 Mark gefördert hat. Denn, so Glogowski: "Es soll nicht nur in Bibliotheken und bei Fachleuten versickern. Wir streben an, dass das Buch in jeden Haushalt der Region kommt. Und für den Preis von 68,- Mark ist es ein Geschenk!"
Dass sich der zweieinhalb Kilo schwere und knapp 1300 Seiten dicke Wälzer mit dem Untertitel "Jahrtausendrückblick einer Region", die der Braunschweigische Geschichtsverein zu seinem 100-jährigen Bestehen in Auftrag gab, bei aller Betonung der Wissenschaftlichkeit auch von der Lesbarkeit her an breite Schichten wendet, betonten die Herausgeber Dr. Hans-Rüdiger Jarck und Professor Gerhard Schildt: Der "historisch interessierte Handwerksmeister" sei imaginäre Zielperson gewesen, das sei bei einigen der 41 hochkompetenten Autoren nicht leicht durchzusetzen gewesen, schmunzelte TU-Professor Dr. Schildt.
   Drei weitere wichtige Kriterien bei der Konzeption des Buches neben Wissenschaftlichkeit und Allgemeinverständlichkeit nannte Schildt: Erstens die Ausgewogenheit der Epochen: "Die Hälfte des Buches umfasst die Geschichte von der Vor- und Frühzeit bis 1800. Die andere Hälfte den restlichen Teil bis in die Gegenwart."
   Zweitens die Betonung der besonderen Leistungen der Region. Etwa, dass während der Herrschaft der Ottonen und Heinrichs des Löwen "hier Entscheidungen getroffen wurden, die bis heute bedeutsam sind." Oder "dass Braunschweig in der Epoche der Aufklärung ein vorbildlicher Kleinstaat war." Oder "dass die einzige erfolgreiche deutsche Revolution des 19. Jahrhunderts hier stattfand." Große Aufmerksamkeit sei auch den herausragenden kulturellen Hervorbringungen zuteil geworden.
Drittens die Berücksichtigung des kleinen Mannes: "Wir haben nicht nur Fürsten und Politiker aufgenommen, sondern auch den Alltag von Bauern, Dienstmädchen, Tagelöhnern, Arbeitern, die Lebensbedingungen in Dörfern, Bergwerken oder Fabriken."
   Der chronologisch von der Steinzeit bis zur Grenzöffnung geordnete, mit mehr als 500 Bildern und Karten, einer welfischen Stammtafel, einer Zeittafel sowie Register und Literaturhinweisen versehene Band ist in einer Auflage von 4000 Stück im Appelhans-Verlag erschienen. Ab morgen ist das Werk im regionalen Buchhandel und den Geschäftsstellen der Braunschweiger Zeitung erhältlich. Es wird zudem auf einer Internet-Seite vorgestellt (www.braunschweigische-landesgeschichte.de).
Dr. Jarck, der Vorsitzende des Geschichtsvereins, betonte, im Vergleich zu der 1976 erschienenen Landesgeschichte von Richard Moderhack handele es sich um eine Vertiefung und Erweiterung im Lichte neuer Erkenntnisse. Schildt: "Manchem Absatz, der jetzt so locker dasteht, sind Monate, wenn nicht Jahre des Forschens vorausgegangen. Es steckt unheimlich viel Detailarbeit in diesem Buch."

Heimat in der Globalisierung

   Dem Verdacht, dieser gewaltige Aufwand für ein längst entschwundenes Ländchen sei nur noch von akademischem Interesse, widerspricht in seinem Vorwort vehement der aus Braunschweig gebürtige ehemalige Präsident der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, Professor Werner Knopp: Das Buch "gilt der Geschichte eines jener kleinen, überschaubaren Lebensräume, die in Zeiten der Globalisierung keineswegs absterbende Relikte, sondern Lebensräume mit Zukunft sind, die von den Menschen als Heimat empfunden werden." Zudem sich im historischen "Gewimmel" Braunschweigs "Glanz und Elend der deutschen Geschichte, und zwar in einer für ein kleines Land erstaubnlichen Dichte und Zeugniskraft." Nicht zuletzt macht Knopp in der Geschichte dieses Landes einen bis heute virulenten "tragischen Grundzug" aus, eine "blaugelbe Melancholie".
   Und Eintracht hat auch wieder nicht gewonnen.

Braunschweiger Zeitung, 24.8.2000

Wissenschaft
Dickes Ding - multimedial
Neues Buch und Internetadresse gehen eine ungewöhnliche und informative Partnerschaft ein

   Ein monumentales Werk zeitgenössischer Geschichtsforschung geht auf Tournee durchs Braunschweiger Land. Der Braunschweiger Geschichtsverein und die Stiftung Nord/LB - Öffentliche präsentieren das Buch "Die Braunschweigische Landesgeschichte - Jahrtausendrückblick einer Region". Doch der zweieinhalb Kilo schwere Wälzer macht nur einen Teil der Chronik aus, denn punktgenau zum Erscheinungstermin wurde auch ein Web-Portal für geschichtsinteressierte Bürger im Internet freigeschaltet. Unter www.braunschweigische-landesgeschichte.de können sich Surfer anhand einer Zeitleiste einen Überblick verschaffen, durch Leseproben Appetit auf das Buch holen oder per Mail in den Kontakt mit den Autoren treten. Außerdem lockt ein Quiz mit der Möglichkeit, eines der 1264 Seiten starken Werke zu gewinnen, die im Handel für 68 Mark zu haben sind.

REGJO - Das Regional-Journal für Südost-Niedersachsen, Ausgabe IV/2000


Braunschweig der Kopf, Wolfenbüttel das Herz
Von Lore Schönberg
WOLFENBÜTTEL  Seit rund zwei Monaten ist sie bereits im Umlauf, jetzt wurde sie auch im Theatersaal des Schlosses öffentlich vorgestellt: die "Braunschweigische Landesgeschichte, Jahrtausendrückblick einer Region". Das Buch hat der Braunschweigische Geschichtsverein mit der Förderung durch die Stiftung Nord/LB/Öffentliche anlässlich seines 100-jährigen Bestehens vorgelegt.

Autoren aus Wolfenbüttel

   Der Geschäftsführer der Stiftung, Gerd-Ulrich Hartmann, betonte während der Begrüßung, man habe den Zeitpunkt der Vorstellung in Wolfenbüttel bewusst in die Mitte der geplanten Einführungsveranstaltung gelegt - denn wenn man Braunschweig als Kopf des alten Landes bezeichne, so sei Wolfenbüttel dessen Herz. Die Zuhörer, zu denen auch der stellvertretende Bürgermeister Heinz-Rainer Bosse und Bundestagsabgeordneter Wilhelm Schmidt als Kuratoriumsmitglied der Stiftung zählten, hörten es gerne. Immerhin kommen mehr als ein Viertel der 41 Autoren des umfangreichen Werkes aus Wolfenbüttel.
   Als wissenschaftlich fundiert und dennoch gut lesbar lobte Dr. Gudrun Fiedler als Vertreterin des Geschichtsvereins das Buch. Sie rechnete vor, dass das Buch zu einem Preis von fünf Pfennigen pro Seite, Illustrationen, Stammtafeln und Karten inklusive,
"sich ganz in der Geschichte bewegen könne".
   Zu den Herausgebern des Werkes und dessen Autoren gehört Professor Dr. Gerhard Schildt, der in einem Vortrag über "...Tagelöhner, Gesellen, Arbeiter. Zur Sozialgeschichte im 19. Jahrhundert" ein spannendes Kapitel der Landesgeschichte darstellte. Die Entwicklung des industriellen Zeitalters bewirkte tiefgreifende, zunächst von Zeitgenossen kaum bemerkte Veränderungen der geschichtlichen Strukturen, was in der Zeit nach 1850 zur gesellschaftlichen Umschichtung führte.

Aussichtslose Lage

   Die Armut und aussichtslose Lage der Tagelöhner als "unterbäuerliche" Arbeitskräfte, die sich der Willkür ihrer bäuerlichen Arbeitgeber sowie der Autorität der Kirche preisgegeben sahen, war ein entscheidender Faktor für die Abwanderung in die Stadt, die mit bisher unbekannten Arbeitsmöglichkeiten lockte. Schildt illustrierte diese Umbrüche mit einer Fülle von Details und ging dann ebenfalls ausführlich auf die Situation der Gesellen ein, die nach gescheiterten Versuchen zur Niederlassung in ihrem eigenen Handwerk ebenfalls ihr Heil in der Industrie suchten, mit dem Blick auf Bildung, Aufstieg und Fortkommen. Das Zusammenwachsen unterschiedlicher Wertvorstellungen führte zum Klassenkampf, zu Vereinsgründungen und gewerkschaftlichen Zusammenschlüssen, die sich für die Rechte der Arbeiter in der neuen Arbeitswelt einsetzten.
    Klar im Überblick und mit beeindruckenden Einzelheiten veranschaulicht Schildt seine Prämisse: "Der kleine Mann - zu Hunderttausenden - ist geschichtsmächtig."

[Braunschweiger Zeitung, Teil Wolfenbüttel, 4.11.00]

Braunschweigische Landesgeschichte:
Von der Steinzeit bis zur Grenzöffnung

   Geschichtsverein und Stiftung Nord/LB-Öffentliche präsentieren das mit knapp 1300 Seiten bisher umfassendste Werk zur Braunschweigischer Landesgeschichte, von den Anfängen bis zur Gegenwart, von der Steinzeit bis zur Grenzöffnung. Eine anschauliche und leserfreundlich geschriebene Bilanz der historischen Regionalforschung.

   Die "Braunschweigische Landesgeschichte" lädt ein zu einer Zeitreise durch ein Jahrtausend Regionalgeschichte. Im Mittelpunkt steht immer das Land Braunschweig, das sich von der Mittelgebirgszone bis in das Norddeutsche Tiefland erstreckt, klimatisch ein Übergangsgebiet zwischen ozeanischer und kontinentaler Prägung darstellt, dessen Bewohner im Mittelalter zum ostfälischen Sprachgebiet gehörten, seit ca. 1800 aber in dem Ruf stehen, das Hochdeutsche vorbildlich auszusprechen, was allerdings nur für die Bewohner der Stadt Braunschweig (und Hannover) gilt.

   Die politische Geschichte des Landes dominierten seit dem 12. Jahrhundert das Herrschergeschlecht der Welfen, deren bedeutendster Vertreter Herzog Heinrich der Löwe (gestorben 1195) der Region eine reichspolitische Bedeutung verlieh, die in der Folgezeit nicht wieder erreicht wurde. Die einzelnen Beiträge lassen die lange Reihe welfischer Revue passieren, die bis zum Ende der Monarchie im November 1918 die Geschicke des Landes bestimmten. Hier findet sich eine bunte Reihe erlauchter Charaktere, nüchtern-pflichtbewusste, wie Herzog Julius, der 1576 die Universität Helmstedt gründete, Gelehrte, wie August der Jüngere, der die Wolfenbütteler Bibliothek schuf, aber auch an der Ungunst der Verhältnisse und eigener Schwäche gescheiterte, wie Friedrich Ulrich, der 1634 kinderlos starb. Der ehrgeizige Herzog Anton Ulrich gemeinhin als Kunstsammler und Erbauer des Schlosses Salzdahlum bekannt, geriet um 1700 mit seinem in Hannover regierenden und zum Kurfürst aufgestiegenen welfischen Verwandten in einen Konflikt, der in einer kurzen militärischen Aktion zu Ungunsten des Herzogs endete.

   "Landesgeschichte" bedeutet heute natürlich nicht nur Fürstengeschichte. Der interessierte Leser wird über die volkssprachliche Literatur des Mittelalters informiert, wozu die Ende des 13. Jahrhunderts verfasste "Braunschweiger Reimchronik" ebenso gehört wie das "Schichtbuch" und der "Eulenspiegel" des Braunschweiger Zollschreibers Hermann Bote. Lessings Jahre in Wolfenbüttel (1770 - 1781) zählen zu den Glanzzeiten der deutschen Literatur- und Geistesgeschichte. Wilhelm Raabe schrieb Ende des 19. Jahrhunderts in Braunschweig unter engen bildungsbürgerlichen Rahmenbedingungen sein bedeutendes Spätwerk. In mehreren Beiträgen werden die Höhepunkte der regionalen Architekturgeschichte bis zur Gegenwart vorgestellt, Bauwerke, die oft überregionale Auswirkung hatten, wie in romanischer Zeit die Klosterkirche in Königslutter, durch Kaiser Lothar III. gegründet, und in Braunschweig der Dom St. Blasii, bekanntlich eine Schöpfung Heinrichs des Löwen. In Adelssitzen, am welfischen Hof und in den Städten entfaltete sich die Ritter- und Bürgerkultur des Mittelalters, begleitet von vielfältigen Formen der Volksfrömmigkeit, die z. B. sich in der Stadt Braunschweig in der Verehrung des Stadtheiligen St. Autor manifestierte.

   Überhaupt: Die Stadt Braunschweig, größte Stadt des Landes, beansprucht in der "Landesgeschichte" naturgemäß einen besonderen Platz, doch sind, wie ein Blick in das umfangreiche Register zeigt, die anderen Städte und Dörfer des Landes nicht unberücksichtigt geblieben. Im Mittelalter nahm die Stadt Braunschweig, nicht zuletzt durch die Mitgliedschaft in der Hanse, einen enormen wirtschaftlichen Aufschwung, und befand sich nach ihrem Selbstverständnis außerhalb der welfischen Stadtherrschaft, ohne jemals den Status einer Reichsstadt besessen zu haben. Zu Recht konnte der Chronist Hermann Bote feststellen: "Brunswiek is von daghe to daghe, von jaren to jaren beter, starcker, mechtiger geworden..." 1671 unterwarf Herzog Rudolf August die Stadt und beendete ihre Selbständigkeit, als alleinige herzogliche Residenzstadt war Braunschweig seit 1753 Hauptstadt des Landes Braunschweig.

   Damals, Mitte des 18. Jahrhunderts, hatte das Land Braunschweig seine um 1600 erreichte größte Gebietsausdehnung längst eingebüßt. 1643, während des Dreißigjährigen Kriegs, aus dem sämtliche welfische Fürsten, aber auch die Bewohner des Landes geschwächt hervorgingen, entstand die zerrissene Gestalt des Fürstentums Braunschweig-Wolfenbüttel, die spätestens in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sich als eine schwere Hypothek erweisen sollte, als die Industrialisierung mit vielfachen wirtschaftlichen und sozialen Umwälzungen ihren Einzug hielt. Industriebetriebe, wie die privatisierten Hüttenwerke im Harz, der Braunkohlenbergbau im Helmstedter Revier (heute BKB) und der Maschinenbau wurden zu Schrittmachern einer lebhaften wirtschaftlichen Entwicklung. Der Leser erfährt interessante Einzelheiten über die oftmals schweren oder monotonen Arbeitsbedingungen in der Braunschweiger Eisenbahnwerkstätte, in den Zucker-, Konserven- und Tabakfabriken des Landes, wobei auch Frauen in nicht unerheblichem Umfang in den Produktionsprozess eingespannt waren. Das spürbare Wirtschaftswachstum im späten 19. Jahrhundert konnte jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die industrielle Entwicklung im Kleinstaat Braunschweig langsamer verlief als in den benachbarten preußischen Provinzen, vor allem bedingt durch die ungünstige Verkehrslage des Herzogtums. Die Verbesserung der Eisenbahnanbindungen beschäftigte viele Jahre die braunschweigische Öffentlichkeit, so auch die Industrie- und Handelskammer. Wirkliche Fortschritte scheiterten an der Interessenlage des übermächtigen Nachbarn Preußen.

   Die Eisenbahnfrage leitet über zu der seit der seit dem Tod des letzten braunschweigischen Herzogs Wilhelm im Jahre 1884 mehrfach aufgeworfenen Frage nach der Zukunft des Landes Braunschweig. Nach den beiden großen Katastrophen des 20. Jahrhunderts, dem Ersten und Zweiten Weltkrieg, hat die Geschichte diese Frage beantwortet. Im November 1946 ist das Land Braunschweig im neu geschaffenen Land Niedersachsen aufgegangen. Beide Weltkriege, die Zwischenkriegszeit, die im Land Braunschweig früher als anderswo politisch und gesellschaftlich installierte NS-Terrorherrschaft, die Verfolgung der jüdischen Mitbürger, der Einsatz von Zwangsarbeitern, die Kriegsverluste an Menschen und Sachgütern: All das wird in mehreren Kapiteln der "Landesgeschichte" eindrucksvoll dargestellt. Die wissenschaftliche Aufarbeitung der genannten Epochen unter regionalhistorischem Aspekt hat in den letzten beiden Jahrzehnten erhebliche Fortschritte zu verzeichnen.

   Zum "Erbe" der NS-Zeit gehörten nicht nur die beiden neuen Industriestandorte Wolfsburg und Salzgitter, deren wirtschaftliche und soziale Entwicklung in zwei interessanten Beiträgen nachgezeichnet wird, sondern vor allem die deutsche Teilung, die dem ehemaligen Land Braunschweig, das mit dem Wiederaufbau und der Integration von Flüchtlingen ohnehin schwerer als andere bundesdeutsche Regionen belastet war, eine wirtschaftlich ungünstige Grenzlage an der innerdeutschen Zonengrenze bescherte. Der letzte Beitrag der "Landesgeschichte" vollzieht unter dem Titel "Nicht mehr Land und doch Region" den Brückenschlag zur Gegenwart: Der aus Not und Entbehrung geborene Aufbau eines funktionstüchtigen, demokratischen Gemeinweisens nach 1945, die moderne Stadt- und Verkehrsplanung, die Entfaltung der Wohlstandsgesellschaft, kulturelle Entwicklungen, Bildungsreformen, Jugendproteste, schließlich die Grenzöffnung im November 1989, seitdem die Region Braunschweig wieder in die Mitte Deutschlands gerückt ist.

   An der Schwelle eines neuen Jahrhunderts, einer Gegenwart, die sich auf den Weg in ein vereintes Europa und eine globalisierte Welt begeben hat, gehört die Rückbesinnung auf historische Wurzeln und das "Beharren auf regionaler Identität, auf Selbstbestimmung und Selbstfindung in gewachsenen, gewohnten und überschaubaren Lebensräumen" (Prof. Dr. Werner Knopp) zu den Faktoren, die bei der Gestaltung der individuellen und kollektiven Zukunft nicht vernachlässigt werden sollten. Die "Braunschweigische Landesgeschichte" möchte dabei behilflich sein.

   Das seit Ende August des Jahres im Buchhandel erhältliche, im Appelhaus Verlag erschienene Werk umfasst 1264 Seiten, über 500 sorgfältig ausgesuchte und aufbereitete Abbildungen, zahlreiche Karten und Stammtafeln des welfischen Hauses, ferner eine Zeittafel zur Landesgeschichte und Literaturhinweise für den Zeitraum 1979 - 2000. Dr. Horst-Rüdiger Jarck (Niedersächsisches Staatsarchiv Wolfenbüttel) und Prof. Dr. Gerhard Schildt (Technische Universität Braunschweig) haben im Auftrag des Geschichtsverein als Herausgeber diese Veröffentlichung betreut, die durch die Stiftung Nord/LB-Öffentliche mit rund 200 000 Mark gefördert worden ist.

   Die "Braunschweigische Landesgeschichte" stellt sich in 41 Kapiteln, die von 36 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern erarbeitet wurden, als eine anschauliche und leserfreundlich geschriebene Bilanz der historischen Regionalforschung am Ende des 20. Jahrhunderts dar. Die Neuerscheinung knüpft an die von Dr. Richard Moderhack 1976 herausgegebene "Braunschweigische Landesgeschichte im Überblick" (3. Auflage 1979) an, die den Forschungsstand der Siebziger Jahre kenntnisreich zusammengefasst hatte. Als gutes Zeichen der Kontinuität wissenschaftlicher Forschung ist es zu werten, dass zwei damalige Mitarbeiter an der neuen "Landesgeschichte" wieder Anteil haben: Dr. Mechthild Wiswe berichtet über "Dörfliches Leben", und Prof. Dr. Wolfgang Meibeyer stellt "Die Landesnatur" und "Die Anfänge der Siedlungen" vor. [Norman-Mathias Pingel]

100 Jahre Geschichtsverein

   Der Braunschweigische Geschichtsverein kann im Mai 2001 auf ein hundertjähriges Bestehen zurückblicken. Dieser als "Geschichtsverein für das Herzogtum Braunschweig" gegründete Verein betreibt die wissenschaftliche Erforschung der Geschichte des Landes Braunschweig. Durch periodische Veröffentlichungen, wie z. B. dem bereits im 80. Jahrgang vorliegenden "Braunschweigischen Jahrbuch" soll das historische Bewusstsein der Bewohner des ehemaligen Landes Braunschweig gestärkt werden.

   Das bevorstehende Jubiläum bot Anlass, eine umfangreiche, zusammenfassende "Braunschweigische Landesgeschichte" zu erarbeiten, die als "Jahrtausendrückblick einer Region" (so der Untertitel) die regionale Geschichte von den Anfängen bis zur Gegenwart, von der Steinzeit bis zur Grenzöffnung präsentiert.

Textprobe:

   "So einteilsam und bedacht man in der Regel mit den wertvolleren Nahrungsmitteln alltags umging, umso üppiger ging es an den Festen des Jahres und des Lebens zu, aber auch beim Leichenschmaus. Manchen nur zu derartigen besonderen Anlässen gereichten Speisen kam obendrein eine brauchtümliche, abergläubische Bedeutung zu. Die Teilnehmer nahmen noch bis in die 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts von den gereichten Esswaren bei Hochzeit und Kindtaufe in eigens dafür mitgebrachten Schüsseln und Körben reichlich mit nach Hause. Nicht zur Festgesellschaft gehörende Dorfbewohner erhielten von der Hochzeit und vom Leichenschmaus Zuckerkuchen und - wohl nur bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts - "Reisbrei". Zum Hochzeitsmahl gehörte ebenso wie zum Taufessen und zum Leichenschmaus "dicker Reis", der in Milch gekocht war, bestreut mit Zucker und Zimt. Zu allen Teilen dieser Festmahlzeiten aß man Weiß- und Roggenbrot. Die damals bereits verbreiteten Kartoffeln werden bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts nirgends in ländlichen Hochzeitsessen erwähnt." (Mechthild Wiswe, in: Braunschweigische Landesgeschichte, S. 908)

Die Braunschweigische Landesgeschichte

   Das neue Standardwerk ist von 36 Forschern erarbeitet worden und in einer Auflage von 4000 Exemplaren erschienen. Das Werk umfasst 1264 Seiten mit 500 Abbildungen und ist im Buchhandel für 68 Mark erhältlich.

[Magazin der IHK-Braunschweig, 12/2000]

 

Die Braunschweigische Landesgeschichte
Jahrtausendrückblick einer Region, hrsg.von Horst-Rüdiger JARCK u. Gerhard SCHILDT. Braunschweig 2000. 1264 S. m. zahlr. Abb.

Ein gewichtiges Geschenk hat sich der Braunschweigische Geschichtsverein zu seinem 100. Geburtstag bereitet. Gut 2,5 Kilogramm bringen die 1.264 Seiten des vorzustellenden Handbuchs auf die Waage. Gewichtig ist aber auch der Inhalt dieses Werkes. Da sich seit der letzten zusammenfassenden Darstellung, die von Richard Moderhack herausgegebene Braunschweigische Landesgeschichte im Überblick (Braunschweig 1976), in der Forschung viel getan hat, ist eine kompetente Zusammenfassung des heutigen Wissens sehr zu begrüßen. Das Autorenverzeichnis liest sich wie ein "Who's Who" der braunschweigischen Langesgeschichtsschreibung und so verwundert nicht, daß sich hier der Kenntnisstand in hervorragender Weise wiederspiegelt.

Die Gliederung des Werkes erfolgt nach üblichem Muster. Einleitend geht Werner Knopp in einem lesenswerten Essay der Frage nach, was eine Landesgeschichte zu leisten vermag. In chronologischer Folge werden dann in fünf Abschnitten Grundlagen (Landesnatur, Sprache, Geschichtsschreibung, Landessymbole), Frühzeit und Mittelalter, Frühe Neuzeit, das 19. und das 20. Jahrhundert abgehandelt. In Aufsatzform wird innerhalb der Abschnitte von Einzelautoren auf selten mehr als dreißig Seiten zunächst die allgemeine, politische Geschichte zusammengefaßt. Es folgen Kapitel zu speziellen Themen der Epoche (Anfänge der Siedlungen, der Dreißigjährige Krieg, die Industrialisierung, Kriegsgeschehen und Verluste im Zweiten Weltkrieg u.a.). Abgeschlossen werden die Abschnitte von Darstellungen über Musik, Literatur, Architektur, und bildende Kunst der Epoche im Braunschweigischen, ertaunlicherweise jedoch nicht zum 20. Jahrhundert.

Hifreich sind als Übersicht am Ende die Stammtafel der Welfischen Hauser - detaillierte Stammtafeln finden sich in den zeitlichen Abschnitten -, vor allem aber die ausführliche Zeittafel, die dem Leser eine schnelle, erste Orientierung bietet, ebenso wie die Literaturhinweise. Hier sind die wichtigsten Darstellungen, Quelleneditionen und Aufsatzbände chronologisch gegliedert aufgeführt, die seit der letzten, dritten Auflage von Moderhacks Überblick erschienen sind. Wer sich mit Einzelthemen der braunschweigischen Landesgeschichte näher befassen will, findet hier den besten Einstieg. Ein ausführliches Register der Orte, Personen und Sachen erschließt den umfänglichen Band.

Hier soll nicht auf jedes einzelne Kapitel eingegangen werden, jedes für sich ist eine Fundgrube an Informationen, so daß der Leser einen umfassenden Überblick über die braunschweigische Landesgeschichte erhält. Dem Berichtsraum dieses Jahrbuchs gemäß folgen lediglich einige Bemerkungen zu den den Landkreis Holzminden berührenden Fragen. Natürlich ist eine Landesgeschichte keine Kreisgeschichte. Dennoch ist augenfällig, daß der ehemalige Weserdistrikt, das Land "hinter dem Tunnel" im ganzen recht mager behandelt worden ist. Leider ist auch die neue Forschung - sicher institutionell bedingt (Universität in Braunschweig, Staatsarchiv in Wolfenbüttel) - braunschweiglastig auf die Stadt und das nördliche Harzvorland konzentriert. Diese Kritik soll jedoch nicht als Monitum verstanden werden, sondern eingedenk der bislang lückenhaften Kenntnisse über diese Region als eine Aufforderung zu weiterer Forschung.

Beispielsweise wird unsere Region in den Abschnitten zum Frühen und Hohen Mittelalter nicht einbezogen, wohl weil die Homburg-Eversteinschen Gebiete erst nach 1400 an das Fürstentum Braunschweig-Wolfenbüttel fielen. Doch fällt dieser Teil der Braunschweigischen Landesgeschichte auch beim Verfasser des spätmittelalterlichen Kapitels recht knapp aus (S.259). - Auf die Gegenwart bezogen ist für das Kapitel "Wirtschaft und Verkehr nach 1945" für die Bereiche Holzminden (auch wenn seit 1942 zum Regierungsbezirk Hannover gehörig) und Ganderheim Fehlanzeige zu vermelden. Dazwischen sind allerdings eine Vielzahl von Details auch zur Geschichte dieser Region versteckt, die sich über das Register erschließen. Einige Wünsche des Rez. bleiben offen. Allerdings: 1.264 Seiten sind schon ein reichlicher Umfang. "Ländliche" Themen scheinen im Fluß der Darstellung unterzugehen. Ein näheres Eingehen auf den Themenkreis Landwirtschaft und Agrarverfassung wäre wünschenswert gewesen, die zuerst im Kapitel "Wirtschaft und Gesellschaft vor dem Dreißigjährigen Krieg" sehr knapp behandelt werden. Vielleicht hätte einem Autoren zu Lasten verstreuter Bemerkungen mehr Raum gegeben werden sollen, um die Geschichte des ländlichen Raumes näher beleuchten zu können. Sehr wenig erfährt man leider zum Thema Forstgeschichte. So wird z.B. Johann Georg von Langen nicht als Pionier der modernen Forstwirtschaft im Blankenburgischen und im Weserdistrikt vorgestellt, sondern versteckt im Kapitel Architektur der frühen Neuzeit als - immerhin - Architekt der Porzellanmanufaktur Fürstenberg und der Arbeitersiedlung Grünenplan, letzteres überdies falsch auf 1740 statt 1744 datiert und ohne Bezug auf die bis in die Gegenwart wichtige Glashütte (S. 681). Die Verwaltungsgeschichte ist dem Rez. ebenfalls leider randständig behandelt worden, es fehlen z.B. nähere Hinweise zur Entwicklung der Erbregister oder der Ämter im und seit dem 16. Jahrhundert. Hervorzuheben sind dagegen etwa die Bemerkungen zum Landrecht (S: 590ff.). Sehr knapp ist durchgängig auch die Geschichte der Juden in Braunschweig ausgefallen.

Alles in allem aber ist "Die Braunschweigische Landesgeschichte" vorzüglich gelungen. Dre selbstbewußt im Titel des Werkes verwendete bestimmte Artikel wurde zu Recht gewählt: Dieses Buch wird für viele Jahre Grundlage weiterer, notwendiger Forschungen bleiben. Dem Braunschweigischen Geschichtsverein ist zu diesem Werk zu gratulieren, auch dazu, daß die ehemalige braunschweigische Brandkasse vereint mit der früheren Staatsbank einen wohlfeilen Preis ermöglicht haben.

[Thomas Krueger, Jahrbuch für den Landkreis Holzminden, Band 19 2001]